MARCO MÜLLER & GORAN GALIC
Goran Galić
8957 Spreitenbach

«8957 Spreitenbach» ist ein Buchprojekt von Marco Müller (Design), Goran Galić (Fotografie) und Anna Miller (Text), herausgegeben von Marco Müller und Mirjam Fischer. Es interpretiert das Format des Gemeindebuches aus der Perspektive von Fotografie und Design – und ist dabei weniger ein Buch über denn ein Buch für Spreitenbach.

Goran Galić
8957 Spreitenbach
Goran Galić
8957 Spreitenbach
Goran Galić
8957 Spreitenbach

Welche Bedeutung hat das Konzept von UTOPIA im Rahmen eurer Praxis, Methoden und Strategien?

Goran: In unserem Projekt «8957 Spreitenbach» haben wir uns mit der Gegenwart der Gemeinde Spreitenbach beschäftigt. Diese Gegenwart verweist auf eine historische, städtebauliche und soziale Utopie, die das Leben und Arbeiten in Spreitenbach bis heute mit-bestimmt – auch wenn vieles davon kaum oder in deutlich anderer Form eingelöst wurde als einst gedacht. Insofern steht das Spreitenbach in unserer Publikation sinnbildlich für das Oszillieren zwischen Vision und Realität, das die Realisierung, aber auch das Scheitern solcher Utopien oft begleitet. Für unser Interesse an dem Projekt war dieser Aspekt von grosser Bedeutung.

1970 eröffnete in Spreitenbach zum Beispiel die erste Shopping Mall der Schweiz. Der Architekt, Victor Gruen, realisierte ebenfalls die erste Shopping Mall in den USA, 1956 in Minnesota. Gruens hatte eine Vision für ein amerikanisches Suburbia, dem er ein fehlendes kommunales Zentrum attestierte. Das Shopping Center in Gruens Vorstellung sollte einem europäischen Stadtkern nachempfunden sein, in welchem Konsum, Arbeit, Wohnraum, soziale Einrichtungen und Kultur aufeinandertreffen und mit öffentlichen Verkehrsmitteln erschlossen sind. In der Rückschau zeigt sich, dass die Vision von Gruen kaum auf Anklang fand. Stattdessen wurden Shopping Center rund um den Globus als Zentren des Konsums gebaut, die bequem mit dem Auto zu erreichen waren.

Goran Galić
8957 Spreitenbach

So wurden amerikanische Vorstädte weniger europäisiert, als dass europäische Dörfer zu amerikanisierten Agglomerationen wurden. Interessant ist, was eine Vision wie die von Gruen in einem Ort wie Spreitenbach bewegt hat und wie dies bis heute nachhallt.

Marco: Das heutige Spreitenbach muss auch vor dem historischen Hintergrund eines Fortschrittsoptimismus verstanden werden. Aufkommender Individualverkehr, das aufgehobene Konkubinatsverbot im Kanton Aargau und viel Bauland im Einzugsgebiet der Stadt Zürich waren weitere Faktoren, die Spreitenbach zum attraktiven Wohn- und Arbeitsort machten. Heute sehen wir eine gebaute Realität, welche oftmals als abschreckend empfunden wird. Uns ging es aber nicht darum zu überprüfen, wie die Effekte der vergangen Utopien aus heutiger Sicht bewertet werden, sondern darum, wie im Spreitenbach der Gegenwart gelebt wird.

Walter R.Hunziker, 1963
8957 Spreitenbach, Visualisierung

Dass dabei über die Kombination von Fotografie, Design und biografischem Erzählen anderer Bedeutungsspuren offen gelegt und sichtbar gemacht werden können als alleine über das Studium von Bauplänen oder Einwohnerstatistiken, war zugleich unsere Motivation wie unser Anspruch an das Projekt.

Utopia kann als mentale Konstruktion eines idealen Systems oder als Modell der Zivilgesellschaft verstanden werden. Wie seht ihr die Rolle der kreativen Praxis in dieser Hinsicht? Oder anders gefragt: Kann Design Gesellschaft verändern?

Goran Galić

Marco: Spreitenbach hatte für Schweizerische Verhältnisse ein unkonventionelles und modernes Leitbild. Das erste Shopping-Center der Schweiz wurde auch darum in Spreitenbach realisiert, weil die damalige Orts- und Zonenplanung weit fortgeschritten war und Vorbildcharakter für andere Agglomerationsgemeinden hatte. Sie sollte modernes Bauen fördern und dadurch zahlungskräftige Steuerzahler anziehen. Es gab damals zahlreiche und auch aus heutiger Sicht nachvollziehbare und innovative Ideen, etwa die Erstellung von Parkplätzen oder die Übernahme von Erschliessungskosten durch die Bauherren. Auch kreuzungsfreie Einfahrten ins Dorf, Fussgängerstrassen ohne Automobilverkehr, Fussgängerüberführungen, grosse Grünflächen um Bebauungen aufzulockern und eine Konzentration von Schulen und kulturellen Angeboten im Zentrum wurden eingeführt.

Wenn wir heute auf diese Planungszeit zurückblicken, kann man sagen, dass es interessant «designt» war, das Konzept aber am Ende – ähnlich wie bei Victor Gruen – nicht ganzheitlich umgesetzt wurde. Letztlich hat der Konsumaspekt alle anderen Aspekte überlagert, insbesondere die kulturellen und sozialen.

Marco Müller

Was inspiriert dich? Gibt es Manifeste, Publikationen oder Denker, die deine Arbeit oder Einstellung beeinflusst haben?

Goran: Seit Anfang diesen Jahres werden im Shoppi Tivoli, im neu eröffneten “Max Frisch” Burgerstand, Edelburger serviert. Der Schriftsteller und Architekt Max Frisch empfand die Gemeinde Spreitenbach und ihre Pläne früh als Vorbild für eine moderne und urbane Schweiz.

Über das Buch und die Autoren:

Im Zusammenspiel von dokumentarischer Fotografie und Interviewfragmenten erzählt «8957 Spreitenbach» über das Leben in und mit der Aargauer Gemeinde. Tragend ist dabei die doppelte Perspektive des fotografischen Blicks von Goran Galić und der von Anna Miller in Interviews festgehaltenen persönlichen Biografien und Ansichten. Eine austarierte Buch- und Textgestaltung führt die LeserInnen auf einen Rundgang durch die vielfältigen Orte sowie Lebens- und Arbeitswelten.

Das Projekt ist auch ein Beispiel, wie die Zusammenarbeit von AutorInnen aus verschiedenen disziplinären Feldern als gemeinsamer Prozess gestaltet werden kann: Konzeptionell, in der Recherche und letztlich auf dem Weg zu einem fertigen Buch, das auch ausserhalb Design- und Fotografie affiner Leserschaft Beachtung findet.

GORAN GALIC (1977, Luzern) studierte Fotografie an der Zürcher Hochschule der Künste, Zürich. Künstlerische Kollaboration mit Gian-Reto Gredig seit 2002. Er arbeitete u.a. im Auftrag für NZZ, DAS MAGAZIN, NEON, Facts, Bilanz, HEKS, DEZA, Hochschule Luzern, Zweifel Pomy-Chips und Migros. Mehr über Goran Galić hier.

MARCO MÜLLER (1979, Baden) studierte Visuelle Kommunikation an der Zürcher Hochschule der Künste, Zürich. Seit 2007 selbständige Tätigkeit in Buchgestaltung, Editorial Design und Art Direction. Er arbeitete u.a. im Auftrag für Kunst Halle Sankt Gallen, Hauser & Wirth, Freitag, Pro Natura, Benteli, Kodoji Press, NZZ Libro, Rollo Press, Scheidegger & Spiess, Stadttheater Bern, Steidl und Vitra. Mehr über Marco Müller hier.